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Ein Hoch auf das „Loslassen“ oder: Die „Leiden“ einer Mutter wenn das Kind flügge wird

Ich bin 50 Jahre alt und lebe mit meiner Familie im Bergischen Land. Mein Mann und ich haben einen 18jährigen Sohn (und einen Hund).

Bei unserem Sohn wurde in der 5. Klasse eine Lese-Rechtschreib-Störung diagnostiziert. Uff, was nun? Was tun? Wie kann ich dem Kind helfen?
Als Mutter entwickelt man schier unerklärliche Kräfte und Energien, wenn es darum geht, das Kind zufrieden und glücklich zu sehen. Unser Sohn wurde beim Lesen und Schreiben unglücklich, war er sonst ein ausgeglichenes und fröhliches Kind.
Nach dem großen „Informationen sammeln“ und viel Kontakt zur Schule unseres Sohnes, die sehr verständnisvoll war, bekam er einen Nachteilsausgleich und den Notenschutz. Auf vielen Schulen immer noch nicht selbstverständlich.

Ich ging regelmäßig zu Lehrergesprächen, bildete mich im Thema LRS weiter, schickte ihn zur Lerntherapie, gründete sogar eine „Selbsthilfegruppe“ für Eltern von Kindern mit dieser Teilleistungsstörung.

Wie ein Damoklesschwert schwebte der Gedanke über mir: Wie kann ich ihm noch helfen?
Ich besorgte viel zu viel Material und verbrachte viele Stunden damit, mit ihm zu lernen. Ich war komplett involviert in die schulische Ausbildung meines Sohnes. Ich organisierte ihm Termine, Lernzeiten, saß beim Vokabellernen neben ihm. Bereitwillig ließ er es über sich ergehen und kämpfte sich so durch die Mittelstufe auf dem Gymnasium - ich stets an seiner Seite klebend (der arme Kerl!).

Dann, 10. Klasse, Eingangsphase zum Abitur (in NRW) und…. CORONA! Schulschließung und ab dann nur noch arbeiten zuhause. Zunächst sehr schleppend, ich druckte und druckte, hunderte von Arbeitsblättern (die nie jemand korrigierte). „Komm’ du musst dranbleiben!“, predigte ich meinem Sohn, Tag für Tag.

Und dann geschah etwas Besonderes…. Das Gymnasium meines Sohnes führte Tablets und Teams für alle Schüler/innen ein. Es gab Unterricht nach Stundenplan und zack… mein Sohn organisierte sich komplett selbst (ich hatte nämlich keinen Plan von Teams).

Ab diesem Zeitpunkt wandelte sich meine Beziehung zu meinem Sohn (sie war immer gut, aber eben anders). Er begann selbstständig zu arbeiten und forderte meine Hilfe nicht mehr ein. Mit Erstaunen registrierte ich: „Ok, er schafft’s alleine.“ Ich war sehr stolz aber irgendwie auch lost, wie man heute so schön sagt. Mit dieser neuen Situation musste ich erstmal klarkommen.

Das Abitur näherte sich, mein Sohn managte sich komplett alleine. Ich startete nochmal einen Versuch und schlug vor, einen Lernplan für die letzten Wochen vor den Prüfungen zu erstellen. Auch hier ließ er meine Vorschläge über sich ergehen, freundlich lächelnd. Jetzt weiß ich, er hat nichts davon umgesetzt. Er wollte einfach seine eigene Strategie finden und was soll ich sagen? Er hat’s geschafft! Das (Turbo)abitur nach 12 Jahren, trotz Legasthenie. Ich platze noch heute vor Stolz, wenn ich nur daran denke. Für ihn war der Tag der Zeugnisübergabe der glücklichste Tag in seinem Leben, so sagte er mir neulich und das komplett ohne Mama-Support. Sensationell! Ich hatte gelernt loszulassen….

Ok, Abi in der Tasche und was nun? „Ach Mama, ich gehe für ein paar Wochen nach Spanien zum Arbeiten in einen Ferienclub“. Schluck! Gesagt, getan! Kind in den Flieger und weg. Ich habe ihn fürchterlich vermisst, er mich Gott sei Dank nicht.
Bei der Rückkehr empfingen mein Mann und ich ein „anderes“ Kind. Ein gereiftes, geradliniges und erwachsenes Kind. Großartig! Wir waren ganz schön stolz.

Und nu? „Mama, ich gehe in die Niederlande zum Studieren!“ Erneutes „Uff“ von Mamaseite.
Dennoch ein toller Plan, der durchgeführt werden sollte.

Was ist nun aus der Mama geworden, die schon eine klein wenig Glucke war? Eine stolze Mutter, die loslassen musste, sich sehr schwer getan aber dennoch losgelassen hat.

Im Rückblick hätte ich das schon viel früher tun sollen.

Mein Appell an alle Eltern da draußen: traut euren Kindern mehr zu! Gebt ihnen Support da, wo sie danach verlangen aber lasst sie reifen (auch einmal scheitern), um zu selbstständigen Erwachsenen zu werden. Viel Erfolg!